– Vorfreude nimmt manchmal merkwürdige Formen an: Ich bin jetzt wegen meiner Reise nach Shanghai, wo ich mich einem Interview für einen Studienplatz an der französischen Universität Science Po stellen möchte, aufgeregter als vor meiner Abreise nach Indien.
– Ich habe 12 Stunden „Layover“ in Delhi, weil ich den billigsten Flug gebucht habe. Mir wird verboten im Ankunftsterminal zu warten (und zu schlafen) und das Abfahrtsterminal darf ich erst 3 Stunden vor Abflug betreten… Während ich also in einem Warteraum ausserhalb des Flughafen versuche, Schlaf zu finden, muss ich an den Film „The Terminal“ denken. Die Sitze sind sehr ungemütlich, das Licht ist grell und die Ansagen im 3 -Minuten Takt, lassen einen wirklichen Schlaf nicht zu. Ich drehe Beethoven’s 9te so auf, dass ich die Ansagen nicht mehr höre! (Ich habe das Problem, dass ich zum einschlafen oder arbeiten keine Musik mit Gesang hören kann… Ich muss dann immer automatisch mitsingen! Selbst bei klassischer Musik werde ich ständig dazu verleitet mitzusummen.)
– Neben mir versucht ein Nepali mit ähnlichem Misserfolg einzuschlafen. Irgendwann geht er Kaffee kaufen und bringt mit einen mit, während ich sein Gepäck beaufsichtige. Er hatte seine Ferien hinter sich und ist auf dem Weg zurück nach Kabul, wo er als Security Trainer arbeitete. Auf meine Fragen meinte er, dass es in Afghanistan nicht so extrem sei, wie es in den Nachrichten dargestellt wird. Es sei – fast – möglich ein normales Leben zu fuhren, nur halt immer mit der Angst. Es ginge in Afganistan viel besser als in Bagdad, da habe er vorher gearbeitet.
– Mir ist – vielelicht etwas spät im Leben – in Dehli auf einem klar geworden, warum in Toiletten oft alles mit Infrarot funktioniert. Wegen des Drecks und vor allem wegen der Bakterien – und das vor allem in Indien! Nur leider sind auf den Toiletten am Flughafen in Dehli, nur der ?!??!?Abzug?!?!? Infrarot auszulösen, um sich dann die Hände zu waschen, muss man den Wasserhahn anfassen…
– Ich habe am Delhi Flughafen eine Cornec getroffen – ich muss nicht sagen, dass sie aus der Bretagne kam… Und einen Inder auf dem Weg nach Paris.
– Bei der Ankunft in der Familie Rao, bei denen ich meine ersten Wochen in China vor nun 5 Jahren verbracht habe, fühle ich mich sofort wohl. Hier hat sich erstaunlich wenig verändert. Das heißt die Menschen haben sich wenig verändert – kein Familienmitglied hat sich die Haare wachsen lassen, oder einen Bart. Es ist fast ein wenig nostalgisch: das Essen, die Couch, die Erinnerungen. Ich bin erstaunt, wie viel Chinesisch ich noch zusammenkratzen kann, aber ich trauere leise meiner Aussprache nach… Die ist echt schlecht geworden. Auch kann ich viele Zeichen nicht mehr lesen, ich habe nur das Gefühl sie mal gekannt zu haben….
– Ich habe in der letzen Zeit als Vorbereitung für mein Interview, sehr intensiv zwei Bücher gelesen. Zum einen „Was denkt China?“ von Mark Leonard, das ich nur allen empfehlen kann, die sich mit China befassen wollen. Mir hat dieses Buch in vielem die Augen geöffnet, weil es sich nicht darauf beschränkt aus Sicht der Europaer, den Aufstieg des Landes zu beschreiben, sondern auf sehr intelligente Weise auch erklärt, wohin sich China begibt. Nachdem ich dieses Buch 2-3 Mal gelesen hatte, ist mir klar geworden, dass ich eigentlich weiterhin Chinesisch lernen möchte, am liebsten mit dem Studium kombiniert. Das zweite Buch ist „The Argumentative Indian“ von Amartya Sen, dass etwas schwerer zu lesen ist, doch ein sehr gutes Bild der indischen Identität und Zerrissenheit zeichnet und und sehr viele Probleme des Landes sehr genau analysiert. Manchmal etwas zu tiefgründig, sodass man die Passagen mehrmals lesen muss, um sie zu verstehen…
– Die ersten Tage in Shanghai mache ich eigentlich nichts. Ich verbringe den ganzen Tag damit, mich im Internet auf mein Interview vorzubereiten. Es sind eigentlich keine NachrichtenWebsites gesperrt, nur mit Google gibt es Probleme… Mir wird irgendwann mein Gmail account gesperrt (von Google). Zum Glück konnte Karin von Deutschland aus wieder aktivieren. Die Raos sehe ich nicht viel, denn alle haben tagsüber zu tun. Nur abends sitzen wir oft noch spät zusammen oder gehen aus essen.
– Nach meinem Interview habe ich noch einen Tag Zeit und schlendere duch die Stadt… Ich könnte nicht sagen, warum mich Shanghai so fasziniert. An sich ist es hier langweilig. Hier gibt es nicht soviel Elend, über das man an jeder Strassenecke stolpert, es gibt nicht so viele extreme Eindrücke, die man im Foto festhalten möchte und so außergwöhnliche alte Architektur gibt es nun wirklich nicht. Ich kann es schwer erklären, aber ich habe das Gefühl, dass der Mix aus westlichem Einfluss mit gewissen kulturellen chinesischen Überresten auf mich eine grosse Anziehungskraft ausübt.
Das wird mir nochmal ganz besonders klar, als ich in einem Park in der Mitte von Shanghai sitzte. Von einem grossen Hügel klingt ein Saxophon herüber (nicht besonders gut, aber passable) oder auch mal ein Schrei (ich schätze als Entspannungsübung, um Stress abzubauen). Alte Menschen machen Übungen auf den dafür konzipierten Trainingsplätzen, bringen ihre Singvögel und reden einfach miteinander, andere erinnern sich ihrer Jugend mit einem Steinschleuderwettbewerb oder spielen Badminton. Wenn ich all das sehe und an meinen chinesischen Opa in Chengdu denke, dann glaube ich, dass es vieleicht schön ist, in diesem Land alt zu werden. Auf jeden Fall weniger stressig als in Indien.
Meine Liebe für China lebt neu auf.
– Der Rückflug ist eine Qual. Ich wurde gefragt, ob ich einen Fensterplatz haben möchte und ich habe wie immer ja gesagt. Dann stellt sich aber herraus, dass ich der letzte in der Reihe bin: also kein Fenster, aber was noch viel schlimmer ist 7 Stunden Flug und ich kann meinen Sitz nicht zurücklehnen, weil dahinter direkt die Wand ist.
– Ein paar Reihen vor mir diskutiert eine Amreikanerin mit einer Chinesin. Sie erklärte ihrer Sitznachbarin, warum ihrer Meinung nach China Amerika nie überholen wird. Ihr Hauptargument war die chinesische Bürokratie, mit der sie anscheinend extreme Probleme gehabt hatte: nie bekommt man die Unterschrift die man braucht, die Öffnungszeiten sind unmöglich und ständig wird die Verantwortung delegiert. Für mich war diese Diskussion so interessant, weil ich auf der Rückfahrt von Bengaluru einem Inder erklärt hatte, dass Indien China als Weltmacht erst einholen könne, wenn es sich grundlegend verändert – vor allem seine Bürokratie reduziert. Meine Argumentation war natürlich nicht nur auf die überbordende Bürokratie gestützt, aber mir wurde klar, dass ich doch ähnlich argumentierte – und das als jemand, der aus einem Land kommt, das allgemein als über bürokratisiert gilt!!! Vielleicht liegen wir beide falsch – die Amerikanierin und ich. Wir vergessen einfach nur, dass wir in diesen Ländern Ausländer sind. Würden wir einen Pakistani in Deutschland fragen, was er von der Bürokratie dort hält, würde er sicher klagen, sich beschweren, dass du nie mit jemandem sprichst, der eine Entscheidung treffen darf. Und vielleicht fragt er sich sogar, wie wir unter diesen Umständen zu einem so weit entwickelten Land werden konnten. Abschliessend möchte ich noch anmerken, dass es nötig war, dass jemand mit China mein zweites Zuhause (nach Europa) angreift, um über meine eigenen Argumente nachzudenken.